„Lost in memory“ – als ich diesen Titel zum ersten Mal las, musste ich sofort
an Filme denken: „Lost in translation“ oder „Lost Highway“ fielen mir ein –
Filme, in denen es um das „Sich verlieren“ geht, um das Wandern zwischen
den Welten. Die Protagonisten erfahren eine andere, eine ihnen fremde
Realität, lassen sich von ihr einfangen und erleben die mentale
Verschmelzung von Innen- und Außenwelt, von Vergangenheit und
Gegenwart. ... weiterlesen
Mit diesen Assoziationen können wir sofort eintauchen in das Werk von
Barbara Nies. Sie behandelt den Vorgang des Erinnerns mit all seinen
zeitlichen und emotionalen Lücken, beleuchtet Zwischenräume, untersucht
Brüche in Lebensläufen und schenkt dem unwillkürlichen Verweilen in Pausen
ihre Beachtung. Die Zeit als ein in Wellen immer und immer wieder
anrollendes Phänomen, das Vergehen der Dinge und Menschen, die
Erinnerung als Echo – Barbara Nies begreift das „Kunstmachen“ als
Nachdenken über nichts Geringeres als die Welt und das Leben.
Ihre Kunst mäandert dabei zwischen Malerei, Fotografie und Installation und
möchte sich keinem Genre ganz unterordnen. Manche Themen sind für sie
eben nicht malerisch darzustellen; da gibt es andere Materialien, andere
Mittel, andere Medien, die sinnvoller scheinen. Überhaupt sind eine große
Offenheit für Themen und Materialien und eine jeweils individuelle
Herangehensweise Charakteristika der Arbeiten von Barbara Nies.
Inspirieren dafür lässt sie sich von historischen Fotografien oder Filmen, aber
auch von Ereignissen ihrer unmittelbaren Umgebung, Gesichtern von Familie
und Freunden oder persönlichen Gedankenwelten. Immer jedoch ist die
vergehende Zeit, ihre Vergegenwärtigung und Erinnerung daran das zentrale
Thema, um das die Künstlerin kreist. Oftmals bedient sie sich dabei der
seriellen Gestaltung, um Abläufe, Bewegungen oder Veränderungen deutlich
zu machen.
„Four Seasons“ heißen zwei Werke in dieser Ausstellung – die vier
Jahreszeiten, die das Jahr markieren, aber auch für Altersstufen stehen
können oder das immerwährende Gleichmaß des Lebens anzeigen. Häufig
gibt Barbara Nies ihren Arbeiten englische Werktitel - ein Indiz dafür, dass
oftmals Liedtexte oder Musik überhaupt die Künstlerin inspirieren. Musik
begleitet uns durch die Phasen und Stationen unseres Lebens und kann
Erinnerungen verstärken: ein bestimmtes Musikstück zu hören, kann einen
vergangenen Moment des Lebens wieder so kraftvoll wiederbeleben, mit
allen Gedanken, Gefühlen und Gerüchen, dass wir ihn nochmals zu erfahren
glauben.
Barbara Nies schöpft ihre Kreativität aus dem Leben und seinen Erfahrungen,
aber es ist ihr auch wichtig, bei der Verarbeitung eine distanzierte Sicht
einzunehmen. Dadurch ermöglicht sie es dem Betrachter, ihre Arbeiten als
Spiegel zu begreifen, um sein eigenes Dasein, seine Erinnerungen, seine
emotionalen Befindlichkeiten zu reflektieren. Sie tangiert den Betrachter mit
Erinnerungsbruchstücken und bietet dadurch eine Öffnung ins Unbekannte
an.
Wenn Sie durch diese Ausstellung gehen, werden Sie sicher länger vor den
Installationen verweilen, die wie Kulissen oder Inszenierungen anmuten
und uns nach dem Sinn fragen lassen. Sind es Fragmente von
Erinnerungswelten, an denen Barbara Nies uns teilhaben lässt?
Unten im Erdgeschoss begrüßt Sie die namensgebende Installation „Lost in
memory“, die uns gleich in eine geheimnisvolle Situation eintauchen lässt.
Ein Video zu verschiedenen Stimmungsmomenten wird begleitet von einem
Geräuschteppich aus Menschengeräuschen. Zwei Personen könnten auf den
behaglichen Stühlen sitzen und ihre kollektiven, geteilten
Erinnerungsmomente in den Schalen ablegen.
Im ersten Stock sehen Sie „Stay“, eine Installation aus 3 Filzhockern,
Wassergläsern und Fotografien von bittenden Händen. Wie eine gerade
verlassene Szenerie wirkt die Anordnung. „Bleib“ soll als Aufforderung zum
Verweilen verstanden werden. „Bleiben“ als zeitliche Tätigkeit bedingt das
Heraustreten aus einem normalen Zeitablauf.
In der Malerei gibt es für Barbara Nies keinen Endpunkt und nichts Fertiges;
sie muss immer wieder suchen, neu ansetzen oder variieren. Malen
empfindet sie als prozesshafte Annäherung. Wenn Sie die Ausstellung
durchschreiten, werden Sie also stets Wiederholungen eines Themas finden.
Zum Beispiel Im 1. Stock die beiden Großformate: „Die Zeit ist ein Riese“,
zwei Bilder als Varianten zum gleichen Thema: Die Zeit als Gigant, als
unbesiegbarer Riese gegen unsere eigene Winzigkeit, die unausweichlich ist
für jeden und alles auf der Welt.
Ich möchte Sie auch unbedingt hinweisen auf die ausliegenden
Skizzenbücher, die Barbara Nies „Logbücher“ nennt, die also so etwas wie
einen geistigen Reiseverlauf dokumentieren: sie sind für jeden Betrachter ein
exklusiver, ja fast intimer Einblick in den Kosmos der Kreativität – nehmen Sie
sich also die Zeit zum Blättern – weil wir selten so stark partizipieren dürfen
an einer künstlerischen Gedankenwelt.
Im 2. Stock leuchtet Ihnen das gelbe „Fenster ohne Haus“ entgegen. Das Haus als Metapher ist ebenfalls ein immer wiederkehrendes Thema bei
Barbara Nies: Behausungen als Sinnbild für die lebenslange Suche nach den
inneren Orten, die Fenster als Einblicke in bestimmte Bewusstseinsmomente,
Synonyme für Stationen oder Phasen des Daseins.
Die Foto-Objekte von Porträts schließlich sind, jedenfalls für mich, die
Werke mit der stärksten Erinnerungskultur. Durch Fotos dokumentieren wir
unser Leben, halten die Verbindung zu Vergangenem und können uns
Vergessenes wieder ins Gedächtnis rufen.
Jeder von uns kennt die Situation, wenn wir eine Kiste mit Fotografien aus
unserem Leben oder dem unserer Familie öffnen – sehr schnell tauchen wir
ein in die Vergangenheit und verlieren uns in Erinnerungen – dann sind wir
„Lost in memory“.
Betrachten wir die Foto-Serien von Barbara Nies, kommen wir nicht umhin,
die Theorien und Erkenntnisse von Roland Barthes und Susan Sonntag
heranzuziehen, deren wichtige Schriften zur Fotografie ich hier zumindest
erwähnen möchte.
Roland Barthes hat den Begriff des „So ist es gewesen“ geprägt, der besagt,
dass Fotografien uns Zeuge werden lassen von einem Moment, der
stattgefunden hat, da er doch dokumentiert ist. Was die Fotografie aber
endlos reproduzieren kann, hat gleichwohl nur einmal stattgefunden. Die
Technik wiederholt also mechanisch, was sich existenziell nie mehr wird
wiederholen können. Dadurch entsteht eine Verbindung von Realität und
Vergangenheit, die Verbindung von Dargestelltem und Betrachter.
Denken wir unter diesem Blickwinkel über die Arbeit „Locked in“ im
Erdgeschoss nach: wir sehen einen Menschen in einer extremen
Gefühlssituation, eingefroren in laminierte Fotos, die das Anhalten der Zeit
noch verstärken; die von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichter
flackern auf wie Erinnerungsfetzen. Wir werden intime Zeugen einer sehr
persönlichen Mitteilung der Künstlerin, die uns teilhaben lässt am „So ist es
gewesen“.
Susan Sonntag schrieb: „Fotografieren heißt, die Sterblichkeit inventarisieren.
Ein Fingerdruck genügt, um dem Augenblick gleichsam eine postume Ironie
zu verleihen. Fotos zeigen Menschen so unwiderruflich gegenwärtig und zu
einem bestimmten Augenblick ihres Lebens; sie stellen Personen und Dinge
nebeneinander, die einen Augenblick später bereits wieder getrennt waren,
sich verändert hatten und ihr eigenes Schicksal weiterlebten.“
Im 1. Stock sehen Sie „Dance“, eine Arbeit mit Fotos von tanzenden Füßen,
aufgereiht an einer Leine. Die Füße korrespondieren in ihrer
Rotationsbewegung mit dem großen Rad. Die Flüchtigkeit der Schritte und
die Unschärfe der Bilder fügen sich harmonisch in einen gedachten Raum.
Überhaupt, der Raum: das Nachdenken über Zeit, Vergänglichkeit,
Lebensläufe oder die Welt überkommt uns in diesem traditionsreichen
Ambiente des Radbrunnens von ganz allein. Ein weiterer Aspekt, der Barbara
Nies auch immer wieder interessiert, sind die Spuren, die Menschen an Orten
hinterlassen haben, auch wenn sie schon fort sind; ihre Aura, die noch fühlbar
ist.
Und noch einmal „Four seasons“, diesmal eine Arbeit in der Nische im 2.
Stock, die uns Glasbehälter mit Gesichtern aus vier Lebens- und Altersphasen
präsentiert. Eingeschlossen im Glas, können sie jedoch wie durch eine Art
Fühler Kontakt zur Außenwelt aufnehmen.
Die Macht der Fotografie liegt darin, dass sie Augenblicke überprüfbar macht,
die der normale Zeitablauf unverzüglich enden lässt. Dieses Einfrieren der
Zeit – das ebenso anmaßende wie quälende Innehalten jeder Fotografie – ist
es, was neue und umfassende Maßstäbe von Schönheit setzt.
Barbara Nies trennt die Kunst nicht vom Leben und verbirgt ihr Leben nicht
vor uns. Die Fotos aus ihrer unmittelbaren Umgebung, ihrer Familie, die
persönlichen und autobiographischen Bezüge, an denen sie uns teilhaben
lässt, offenbaren eine Künstlerin, für die alles miteinander verwoben ist und
die aus der großen Fülle des Daseins ihre Kreativität schöpft.
Ich möchte schließen mit einer wunderbaren Erkenntnis der amerikanischen
Schriftstellerin Siri Hustvedt:
„ Wenn wir ein Kunstwerk bewundern, vollzieht sich immer eine Art Erkennen.
Das Objekt spiegelt uns, aber nicht wie ein Spiegel uns unser Gesicht und
unseren Körper zurückwirft. Es spiegelt die Wahrnehmung des Anderen, des
Künstlers, die wir uns zu eigen gemacht haben, weil sie etwas in uns
erklingen lässt, das wir für wahr halten. Diese Wahrheit mag bloß ein Gefühl
sein, nichts als ein summender Nachklang, den wir nicht in Worte fassen
können, oder sie mag sich zu einer gewaltigen diskursiven
Auseinandersetzung entwickeln. Sie muss aber da sein, damit die
Verzauberung eintritt – dieser Ausflug ins Du, das auch ein Ich ist.“
Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen viel Erkenntnis und Teilhabe an
den Arbeiten von Barbara Nies – ob in stillem Fühlen oder intensivem Diskurs,
sei Ihnen überlassen.
Katja Weeke, Kunsthistorikerin M.A.
In der ehemaligen Fabrikhalle dokumentieren paarweise auf Notenständern
präsentierte Abbildungen von Menschen das Vergehen der Zeit: Während einzelne
der schwarz-weißen Figuren und Portraits noch klar zu erkennen, erinner- und
veräußerbar sind – verschwinden andere schon im Dunkel, sind Schemen am Rande
des Vergessens geworden. Die an den Notenständern fixierten Bewegungsmelder
scheinen dabei das Aufscheinen der Erinnerung zu dokumentieren: ... weiterlesen
Das Leben für und von der Arbeit, Beziehungssituationen, der Alltag mit Kindern,
das eigene Selbstbild, Alter....Grundlegende menschliche Themen tauchen wie im
Vorübergehen auf und werden in der weiteren Gestaltung des Raums aufgegriffen.
Im angrenzenden Areal sind mit zwischen Boden und Decke aufgespannten weißen
Strumpfhosen in der Düsternis der ehemaligen Industriehalle nur noch die Beine als
eine Art Tanz oder letztes abschiedliches Relikt der hier einst Anwesenden
gegenwärtig. In der gegenüber liegenden Ecke stehen bereits schiff- oder flügelartige
Gefährte zur Abreise bereit, die in einer Videoprojektion in einem Bambuswald
schwingen zu scheinen.....
Thema ist Erinnerung - auch ungeordneter, der Chronologie und emotionalen
Bewertung nicht mehr zugänglicher Momente. Die Vergegenwärtigung der in dieser
Fabrikhalle arbeitenden, nur noch atmosphärisch anwesenden Menschen, erscheint
dabei dem Betrachter als Spiegel, als Angebot, eigene Erinnerung an Leben, an
Ausschnitte und Facetten zu konfrontieren und aktuell werden zu lassen -
symbolisiert durch eine mit einer Vielzahl kleiner roter Röhren bedeckte
Bodenfläche.
Lebensweg als Vielzahl gestaltbarer Momente: Vergänglichkeit und
Erinnerungsbruchstücke im ganzen Spektrum zwischenmenschlicher
Befindlichkeiten hat Barbara Nies auch in den beiden in die Installation integrierten
Videopräsentationen thematisiert: Hier werden Begegnungen zwischen Menschen
simuliert und zugleich der Vorgang des Sehens an sich aufgegriffen - die fortlaufende Bewegung und Flüchtigkeit der filmischen Präsentation entfacht hier auf ganz eigene Art die Auseinandersetzung mit zeitliche Abläufen.
Marlene Schrader
In der Kunst sind die Versuche, Zeit ins Bild, bzw. ein Bild der Zeit zu setzen Legion - zunächst in allegorischer Form, etwa in Gestalt
des Vanitas- Stilllebens, in der Moderne in Bewegungsabläufen und musikalischen Analogien - denken wir etwa an Paul Klees Fugenbilder,
Duchamps "Akt dieTreppe herabsteigend" oder an die Simultanbewegungen der Futuristen, in der Zeitkunst des Happenings, in der kinetischen
Kunst, bis hin zu den tönenden Zeit-Zeichen eines John Cage. "Die Zeit in der Kunst" - das ist ein weites Feld. Es gemeinsam abzuschreiten
würde ihre und meine Zeit sprengen.
"Die Zeit ist ein Riese", sagt die Künstlerin Barbara Nies,
... weiterlesen
die sich dem Thema in vielerlei Gestalt annimmt: In Papierarbeiten, Objekten und in einer Malerei zwischen Gegenständlichkeit und purer Farbdynamik. "Die Zeit ist ein Riese" - der Titel eines Bildes, in dem sich eine amorphe orange Struktur auswächst, bedrohlich oder bergend - das liegt im Auge des Betrachters.
Wir sind nicht Herr der Zeit, sie wächst förmlich auf uns zu, droht uns mit ihrer Übermacht. Wer kennt nicht diesen Zustand der Überwältigung - sei es von den Zeitläuften, sei es vom Gefühl des Lebenszeit-Verlustes, oder ein einschneidendes, Augen und Sinne öffnendes Erlebnis, eines Schicksalsschlags zumal, der die Dimension der Zeit - und der eigenen Winzigkeit ihr gegenüber erst zu Bewusstsein bringt. Auch jene zwei "Giganten" Francesco Goyas kommen in den Sinn, von denen einer gegen einen unsichtbaren Gegner an zu boxen scheint, und In der Landschaft unter ihm setzt sich ein Flüchtlingstreck in Gang. Doch vor der alles zermalmenden Zeit - so sie der Maler denn gemeint hat - gibt es kein Entkommen.
Barbara Nies "Zeit-Riese" in Acryl ist dagegen kein Erzähl- sondern ein Farbereignis - das seine Wucht selbst bei längerer Betrachtung nicht verliert. Leider ist das Bild unverkäuflich.
Das Phänomen "Zeit" beschäftigt die Künstlerin schon deshalb, weil sie auf unterschiedlichen Gestaltungsebenen von jeher seriell arbeitet. Im Medium der Fotografie erscheint der Zeitverlauf per se gestoppt, der Augenblick eingefroren im "nunc stans".
Eine Abfolge von Fotografien evoziert ein rhythmisches Staccato, das dem Eindruck des gleichmässigen Zeit-Flusses zuwider läuft, der physikalisch übrigens bis heute unbeschreiblich bleibt. Da ist etwa die Serie mit dem Gesicht ihres Sohnes - Erinnerungslichter eines überlebten Gemütszustandes.
In ihrem Video "suitcase of memories" präsentiert uns Barbara Nies in unterschiedlichen Intervallen eine Abfolge von Fotos - Portraits zumeist - in ausdrucksstarken Zweiergruppen.
Fotos unterschiedlichster Provenienz, vom Porno bis zum Zeitungsbild, auch Flohmarkt-Trouvaillen: Erinnerungsbeladene und zugleich anonyme objets trouvés, mehr oder minder zufällig aus dem biographischen und historischen Zeitfluss geklaubt - jedes von der Prägnanz von Déja-vues. Ja, ein unweigerlich vages Bekanntheitsgefühl stellt sich ein vor diesen namenlosen Inseln des archivierten Erinnerns. Unterschiedliche Altersstufen und Gefühlszustände tauchen aus dem schwarz-weißen Bewusstseinsstrom und - eben hat man sie realisiert - wieder darin unter. Die Gesichter führen Augenblickskorrespondenzen, nehmen sekundenlang Kontakt auf zum Betrachter oder bleiben ganz für sich: Flashbacks aus dem Fluss des Lebens der anderen.
In uns allen tickt unbarmherzig die innere Uhr, die Zeit ist aber auch eine Bewusstseinskategorie - ereignissatteTage vergehen bekanntlich schneller als ereignislose, Schulstunden schienen sich endlos zu dehnen - und es gibt den sinnerfüllten Augenblick zu dem man sagen möchte: "Verweile doch, du bist so schön!"
Einen solchen kontemplativen Augenblick verlangsamter Zeit evoziert Barbara Nies in ihrem zweiten Video: Wehender Bambus mit der Projektion eines Wassers, in das fallende Regentropfen konzentrische Kreise setzen. Davor im Wind pendelnde gespensterhafte Fahnen - so genannte Luftschiffe, wie sie in Barbara Nies´ Oeuvre immer wieder auftauchen. Ein Anhauch von Weiß und Grün, ein bewegtes, in der Wiederholung zugleich beruhigendes Bild, bei dessen Betrachtung man mitunter die Zeit vergisst. Daneben, auf einem dritten Bildschirm die pure Bewegung: Vorwärtsstrebende Beine - aus einem historischen Film über New York - die City am "Puls der Zeit". Die schwarzweißen Beine längst Verstorbener, unter den bunten Körpern von "Zeitgenossen" in derselben zielgerichteten Bewegung, die das Leben ist - hin auf den Tod. Schlimmer als das Bild vom alles nivellierenden Fluss der Zeit, ist der Gedanke aus der zugewiesenen Spanne "nichts gemacht", seine Zeit nicht sinnvoll gefüllt, mit Entschiedenheit ihr etwas (vorerst) Bleibendes abgetrotzt zu haben - nutzlos vertane,"leere" Zeit. Demgegenüber inszeniert Barbara Nies in ihren Mischtechniken den Prozess des Erinnerns: Gesichter tauchen lemurenhaft aus dem Nebel der Vergangenheit; erst der versenkende Blick verleiht ihnen Tiefenschärfe. Das Verfahren der Palimpsest-haften Schichtung hat sein Äquivalent in der Funktion unseres Gedächtnisses. Die Archäologie des Erinnerns ist ein zentrales Thema in Barbara Nies' Werk.
Leiterartige Dachverkleidungen aus Metall nehmen den Charakter von "Erinnerungsspeichern" an, archetypischen Bildarchiven, aus denen sich der Betrachter bedienen, die er nach Belieben variieren kann. Das Spektrum der Gemütszustände quer durch alle Lebensalter ist dabei immens.
Eine gewollte Beliebigkeit wohnt diesen Bild-Installationen inne - in Stahlrinnen und auf Notenständern präsentiert sich der fotografische Fundus - Notationen des Lebens. Vergleichsweise archaisch muten die zeltartigen Installationen aus Leinwand und Holz an - notdürftige Wehr gegen die Unbilden der Zeit. Man fühlt sich an steinzeitliche Wohnstätten erinnert - provisorische Vorläufer des Hauses, wie es als unsicheres, mit seiner Farbumgebung verschmelzendes Zeichen ersehnter Konstanz auf den großen Acrylbildern der Künstlerin immer wieder in Frage gestellt wird. Nein, die festeste Wohnstatt hält dem Zugriff der Zeit nicht stand. Das Signum des rechten Umgangs mit ihr scheint das Segel zu sein, das sich als "Luftschiff" dem Sog der Zeit leichthin anvertraut.
Am Ende dieser rudimentären Betrachtungen sollen zwei Strophen eines Gedichts von Rainer Maria Rilke stehen, das den Zeitflüchtigen Mut macht:
Wir sind die Treibenden. Aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden.
Alles das Eilende wird schon vorüber sein ; denn das Verweilende erst weiht uns ein. ...
Stefan Tolksdorf
Einen Raum spannungsvoller und zugleich meditativer Intensität hat die in Freiburg lebende Künstlerin Barbara Nies derzeit im Freiburger
„Haus der Mehlwaage" eingerichtet: Wird der Besucher bereits draußen am Eingang von einer großen schwarzen Wand empfangen, die in weißen
Lettern den Installationstitel "Transit" vorstellt, so trifft er im Innern des Ausstellungsraumes auf eine großflächig angelegte Arbeit,
die sich aus drei Ereignisorten zusammenzusetzen scheint: ... weiterlesen
Ein aus gleichförmigen, kurzen einem alten Zaum entnommenen Hölzern gelegter Pfad schlängelt sich durch den Raum. Er führt den Betrachter an ein aus Holzstangen und Papier gefertigtes hohes Zelt, vor dem zahlreiche Aluminiumgefäße am Boden stehen: Die Behältnisse sind mit pulverartigen Rohstoffen gefüllt: Gewürze, Farbpigmente, Mehl und andere zerriebene Stoffe beeindrucken in ihrer unmittelbaren Materialpräsenz, die den Betrachter mit eigentlich Bekanntem in einem unbekannten Zusammenhang konfrontiert.
Den wegweisenden Hölzern folgend, findet sich der Betrachter dann vor einem aufgeschütteten Hügel aus feingestäubtem Mehl, der einige nun nutzlos gewordene Alltagsgegenstände so zudeckt, dass sie in ihrer Form und Funktion nur noch erahnt werden können und so in einer verstörenden Mehrdeutigkeit präsent bleiben. An der Wand, unter einer monochromen weißen Tafel, entdeckt man schließlich eine Mehlspur, in der grüne Glassplitter aufgeschichtet sind. Gegenüber bilden sieben aus Sackleinen und schwarzem Stoff am Fußboden lokalisierte „Schlaf-stätten", an deren Kopfende jeweils ein schwarzer Holzkasten an der Wand den Schläfer zu beschützen scheint, einen kommentierenden Kontrast zu den weißen, luftigen Materialarrangements.
Holzstäbe, mit einem Ende mit Mehl geweißt, liegen isoliert und doch aufgereiht auf den Leinensäcken: Assoziationen an namenlos gewordene Menschen, an Lager, Einsamkeit und Anonymität stellen sich ein - und so verdichtet sich die gesamte Installation zu einer rätselhaft subjektiven Mythologie, die ohne Erklärungsversuche existieren will.
Barbara Nies, die an der Berliner Kunsthochschule das Studium der Malerei und Bildhauerei beendet hat und inzwischen an der Freien Akademie für Bildende Kunst in Freiburg als Dozentin tätig ist, hat ihrer Arbeit etwas hermetisch In-sich-Verschlossenes gegeben, das den Betrachter umso mehr einlädt, sich an das scheinbar Unerklärliche sehend, einfühlend und nachdenkend heranzutasten.
Mechthild Heinen